Die Öko-Rebellen vom Himalaya

Was in Deutschland immer noch reine Utopie ist, wird in einem indischen Bundesstaat im Himalaya praktiziert.  Sikkim hat seine Landwirtschaft komplett auf Öko-Landbau umgestellt. Ein Vorbild für eine Welt ohne Pestizide, Gentechnik und Kunstdünger?

Text: Berndt Welz
Erschienen in: natur 04/19 und Rheinpfalz 04.07.2019

Das Grab misst vier Meter mal drei Meter. Säckeweise schüttet ein Arbeiter mit grimmiger Miene das noch frische Gemüse in die Grube. Zwei andere hacken es klein, dann schütten sie es mit Erde zu. Die Polizei hatte die Wagenladung auf dem Bio-Markt beschlagnahmt. Der Lebensmittelkontrolleur Passang Tang ist zufrieden: „Dieses Gemüse wurde mithilfe von Pestiziden produziert. Der Verkauf ist bei uns gesetzlich verboten.“ Die Aktion ist Teil eines weltweit einmaligen ökologischen Masterplans. Denn hier in Sikkim geschieht Bemerkenswertes. Der kleine indische Unionsstaat hat als erste Region der Welt seine gesamte Agrarwirtschaft auf Ökolandbau umgestellt.

Sikkim liegt im Nordosten Indiens, zwischen Nepal und Bhutan. Ein Vielvölkerbundesstaat, auf dessen Territorium der Kangchendzönga, der mit 8586 Metern dritthöchste Berg der Erde, thront. Die Winter sind rau hier im Himalaya, die Menschen wussten schon immer um ihre Abhängigkeit von der Natur. Viele der 660.000 Einwohner Sikkims leben in den Bergen, ein Zehntel sind in der Landwirtschaft tätig. Auf Terrassen, noch in bis zu 3000 Metern Höhe, pflanzen sie ihr Gemüse an.

Es ist Frühling. Rangpo, ein kleiner Ort an der Hauptstraße in die Hauptstadt Gangtok. An einer unscheinbaren Einfahrt wartet eine Menschenmenge. Ein weißer Geländewagen fährt vor. Grauer Anzug, blaues Hemd, im Revers zwei Kugelschreiber, Typ Buchhalter – man könnte Pawan Chamling durchaus unterschätzen, hätte er nicht diese hellwachen Augen. Chamling, der Ministerpräsident Sikkims, besucht heute eines der Forschungsinstitute für biologischen Landbau.

Zu Chamlings Tross gehören sein Landwirtschaftsminister, der Forstminister, sein persönlicher Attaché sowie grimmig dreinschauende Security-Leute. Vorneweg der kleine Mann, der so viel bewegt hat. Einige Dutzend Menschen versuchen, ihm zur Begrüßung bunte Schals umzuhängen. Doch Pawan Chamling gibt sie zurück. Er mag es nicht, wenn ihm seine Bürger wie einen König huldigen. Am Ende der Palmenallee des Instituts steht ein Holzpodest mit einem Sofasessel, auf dem Chamling Platz nimmt. Vor dem Podest haben sich 50 Bauern versammelt. Eine kunterbunte Mischung der unterschiedlichsten Kulturen Sikkims: Leptcha, Buthia, Nepali und Einwanderer aus dem indischen Subkontinent. Pavhan Chamling, der kleine Mann mit dem grauen Anzug, steht auf, redet mit ruhiger Stimme auf Nepali.

Chamling ist ein Mann ohne viel Getöse, demütig, er würdigt andere Menschen nicht herab. Ein Anti-Trump. Die Menschen hören ihm gerne zu, denn er hat Antworten und Visionen. Der 68-Jährige spricht vom Schrecken des Klimawandels, von der Bedrohung der Arten durch die konventionelle Landwirtschaft. Sachlich benennt er die Pestizide, die auch in kleinen Mengen die Menschen krank machen. Sagt, dass sein Land diese Geißel hinter sich gelassen hat. Pawan Chamling, Sohn eines Bauern, regiert seit 25 Jahren in Sikkim. Er ist der dienstälteste Ministerpräsident Indiens.

Dank der von ihm initiierten „Organic Mission“, der Mission Biolandwirtschaft, wurden innerhalb von nur 13 Jahren 66.000 Bauern zu Ökolandwirten. Dabei geht es nicht nur um den kompletten Umbau der Landwirtschaft, weg von den unseligen Chemikalien. Das Ziel ist, eine möglichst hohe Produktivität im Öko-Landbau zu garantieren. Schließlich wollen die Menschen ernährt werden.

Eine der Bäuerinnen, zu denen Chamling heute spricht, ist Mala Sherpa. Sie kam vor sechs Jahren aus der übervölkerten Küstenmetropole Kalkutta in die Einsamkeit des Himalaya. Die Familie ihres Mannes baut schon seit Generationen hier im Westen Sikkims in 1500 Meter Höhe Obst und Gemüse an: Karotten, Kartoffeln, Ingwer, aber auch Orchideen, die in dieser Umgebung besonders gut gedeihen. Insgesamt 16 Kulturen auf gerade einmal vier Hektar Land. Für einen deutschen Bauern wäre diese Art der Bewirtschaftung absolut unrentabel. „Für uns ist es wichtig, dass wir mit der Natur leben und nicht gegen sie“, sagt Mala Sherpa. Der Profit steht nicht an erster Stelle. „Wir passen auf, dass es auch der Natur, den Pflanzen und den Insekten gut geht.“ Monokulturen sind Sikkims Biobauern fremd. Eine ausgeklügelte Fruchtfolge und Mischkulturen nützen dem Boden und der Gesundheit der Pflanzen.

Die Ernte wird mit Kleintransportern über die engen Gebirgsstraßen zum Verkauf in die größeren Städte gefahren. Auf den Biomärkten werden Obst und Gemüse noch für einige Zeit zu staatlichen Fixpreisen angeboten. Das soll die Bauern vor einem Preiskampf schützen und ihnen ein gutes Einkommen bescheren. Auf dem Markt entscheidet also allein die Qualität. Fertigprodukte wie Schokoriegel, Currymischungen oder die beliebten Instant-Gerichte, deren Zutaten auch aus konventioneller Landwirtschaft stammen, werden nach wie vor in Sikkim verkauft. Auf den Biomärkten sind sie allerdings verboten. Hier wird ausschließlich Frischware feilgeboten.

Im konventionellen Landbau wird meistens nach dem Gießkannenprinzip verfahren: Felder werden mit tausenden Tonnen Pestiziden geimpft, um einer drohenden Epidemie vorzubeugen. Auch dann, wenn am Ende kaum oder gar keine Schädlinge anrücken. Im Bio-Landbau dagegen müssen Sikkims Landwirte einen fast schon detektivischen Blick für jede kleinste Verfärbung ihrer Pflanzen haben, für die Beschaffenheit des Bodens, die Wetterlage. auch deshalb gibt es in Sikkim inzwischen 700 Weiterbildungsprogramme.

Mala und ihr Mann Danuri Sherpa  scannen und beobachten die Situation im Korianderfeld und auf dem restlichen Hof. Mehrmals in der Woche tagt der neunköpfige Familienrat, um zu beratschlagen, mit welchen biologischen Mitteln die Fruchtbarkeit des Bodens verbessert werden kann. Dafür sammeln sie wie Medizinmänner Extrakte von Baumrinden, Wildpflanzen und Kräutern, um nach alten Rezepten Sude anzurühren. Den von der indischen Zentralregierung subventionierten Kunstdünger haben sie seit der Umstellung vor 13 Jahren abgeschafft. Stattdessen setzen sie auf eine Armee fleißiger Mitarbeiter, die sich rund um die Uhr durch modernde Pflanzenreste frisst und nahrhaften Humus herstellt: Ihre Regenwürmer leben unter einem Verschlag mit einem Dach in einem dunklen Reich.

Seit sechs Jahren hat es keine größeren Schäden oder Missernten gegeben. Umso erstaunter ist Mala Sherpa, als sie auf ihrem Kartoffelfeld dunkle Verfärbungen an den Blättern entdeckt. Ein Pilz konnte durch den früheren Beginn der Regenzeit zuschlagen. Die Kartoffeln sind nur mickrig ausgebildet und taugen nicht für den Verkauf. Wieder tagt der Familienrat, um über Maßnahmen zu beraten, wie sie die Kartoffeln noch besser schützen können.

Sikkims Bauern hatten relativ günstige Voraussetzungen für eine Umstellung auf Bio, im Vergleich etwa zu Landwirten im industrialisierten Deutschland. Die Höfe sind klein, oft nur einen Hektar groß. Die Lage an den steilen Berghängen hat nie intensive Landwirtschaft mit großen Maschinen zugelassen. Dennoch durften auch die Bauern Sikkims ab Ende der 60er Jahre jene Errungenschaften der sogenannten „grünen Revolution“ in Anspruch nehmen, die noch immer in weiten Teilen Indiens für große Probleme sorgt. Damals wurde der Bekämpfung des Hungers alles andere untergeordnet. Auf vielen Äckern Indiens werden seitdem chemische Pflanzenschutzmittel ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Menschen ausgebracht.

Große Agrokonzerne wie Monsanto machen damit auch heute noch gute Geschäfte: Sie versprachen den indischen Farmern rosige Zeiten, wenn sie ihr gentechnisch verändertes Saatgut auf Dauer abkauften. Doch damit tappten die Bauern in die Abhängigkeit und oft in den Ruin, weil die Konzerne fortan die Preise diktieren konnten. Ein System, das viele Kleinbauern zugrunde richtete. Noch heute hat Indien unter den Landwirten die weltweit höchste Selbstmordrate.

Für die Regierung Sikkims steht die Gesundheit aller Menschen, auch der Bauern, an oberster Stelle. Deswegen hat sich das Land von den Verheißungen von Bayer, Monsanto, Syngenta und Dow Chemical radikal abgewendet. Sikkims Ministerpräsident Pawan Chamling, scheint es, hat einen ziemlich großen Stein ins Rollen gebracht. Denn es geht ihm nicht nur um sein kleines Bundesland, sondern um eine weltweite Agrarwende.

Um den Ökolandbau wissenschaftlich zu begleiten, ließ er vor 15 Jahren in seinem Bundesstaat ein eigenes Bio-Forschungsinstitut gründen. „Wissen Sie“, sagt Ravikant Avasthe, der Institutsdirektor, „dass wir seit der Umstellung eine enorme Zunahme von Bestäubern wie Bienen und Hummeln haben?“ Er bekommt mittlerweile eine ganze Reihe Anfragen, aus anderen indischen Bundesstaaten, aus aller Welt. Drei weitere indische Bundesstaaten wollen ihre Landwirtschaft auf Bio umstellen, darunter als größter Uttarakhand im Norden Indiens. Allein dort würde es dann 1,6 Millionen Biobauern geben. Mittlerweile bekommt Sikkim auch Unterstützung von der indischen Zentralregierung in Delhi. Premierminister Narendra Modi lobt Sikkims „Organic Mission“ und lässt sich gerne mit dem Macher, Pawan Chamling, ablichten.

Die Zeiten in Indien scheinen sich zu ändern. Dort hingegen, wo Agrarkonzerne wie die Monheimer Bayer AG ihren Hauptsitz haben, ist von dieser Bio-Dynamik nicht so viel zu spüren. In Deutschland tritt der Ökolandbau seit Jahren auf der Stelle. Die Zuwächse sind gering. Rund 92 Prozent der Agrarfläche hierzulande werden noch immer konventionell bestellt. Von den 20 Prozent Ökolandbau, die  die damalige grüne Landwirtschaftsministerin Renate Künast im Jahr 2001 gefordert hat (und zwar schon für das Jahr 2010), sind wir noch immer weit entfernt. Es kam nie zu einem verbindlichen Beschluss wie in Sikkim. Auch heute gibt es nichts weiter als eine unverbindliche Absichtserklärung der Großen Koalition, dass man die 20-Prozent-Marke erreichen wolle (Stand jetzt: im Jahr 2030).

Eine umfassende Agrarwende in Deutschland lässte weiter auf sich warten. Das liegt auch an der Macht des konservativen Bauernverbandes. Dank seiner Lobbyarbeit wurden in den letzten Jahren viele Verschärfungen im Umwelt- und Tierrecht verhindert oder abgemildert. „Eine zentral geplante Umstellung auf 100 Prozent Ökolandbau macht keinen Sinn“, sagt Bernhard Krüsken, der Generalsekretär des Bauernverbandes. Zwar verweist der Verband auf eine eigene Studie, derzufolge 15 Prozent seiner Mitglieder überlegen, auf Öko-Landbau umzusatteln. Aber dass der Lobbyverband deswegen gleich seine 150.000 Mitglieder auffordert, die Pestizidspritzen einzumotten, ist unwahrscheinlich. Zu groß ist auch die Nähe zu den Herstellern der Mittel. So sitzen etwa Vertreter von Bayer, BASF und anderen Chemiefirmen mit Bauernverbandsvertretern im „Forum Moderne Landwirtschaft“, einer Lobbyorganisation, die für die Erhaltung des konventionellen Landbaus eintritt. Der Pestizidhersteller Bayer sponsert außerdem gerne Veranstaltungen wie den Deutschen Bauerntag.

Auf dieser Veranstaltung wird auch deutlich, welche Themen den Verbandsoberen wirklich wichtig sind. Da geht es weniger um den Klimawandel, um das Arten- und Insektensterben und schon gar nicht um den Ökolandbau, sondern um Pfründe. Rund sechs Milliarden Euro zahlt die EU jedes Jahr an die deutschen Landwirte. Ohne diese könnten viele ihren Hof zumachen.

Und auch vom CDU-geführten Landwirtschaftsministerium geht kein erkennbarer Impuls aus, die tristen, hunderte Hektar großen Monokulturen durch blühende Öko-Landwirtschaften zu ersetzen. Zwar beteuert Agrarministerin Julia Klöckner immer wieder, wie wichtig der Naturschutz sei. Die Bienen bezeichnete sie sogar als „systemrelevant“ und forderte das konsequente Verbot von bestimmten Pestiziden: „Was für Bienen schädlich ist, muss weg vom Markt.“ Aber eine entschiedene Abkehr von der industriellen Landwirtschaft ist kein Thema – im Gegenteil. Der Ökolandbau wird eher als putzige Nische gesehen. Gerade einmal 30 Millionen Euro will Klöckners Ministerium für die Forschung im Ökolandbau ausgeben, ein halbes Prozent des Gesamtetat ihres Ministeriums.

Nur wenige Landwirte bringen unter diesen Rahmenbedingungen den Mut auf, aus dem deutschen Agrar-Mainstream auszuscheren und in den Ökolandbau zu wechseln – obwohl die Nachfrage nach entsprechenden Lebensmitteln stetig zunimmt. Denn für die so genannten Umsteller ist der Abschied von der Pestizidlandwirtschaft oft wie ein Roulettespiel um die eigene Existenz. Drei Jahre lang dürfen sie ihre Ernte nicht als Bioprodukte verkaufen. So lange braucht es nach den Richtlinien der Ökoverbände, bis die Böden dekontaminiert sind. Da hilft es auch wenig, dass langfristig die Preise für Bioprodukte höher sind und es den Biobauern im Vergleich zu ihren mit chemischen Helfern anbauenden Kollegen oftmals wirtschaftlich besser geht.

Obstbauer Ulrich Beckmann traute sich trotzdem. Das Unkraut auf seiner Apfelplantage im Alten Land nördlich von Hamburg bearbeitet er seit seit zwei Jahren nur noch maschinell. Für ihn ist der Ökolandbau wie eine eigene Wissenschaft. Früher versprühte er Pestizide wie Glyphosat prophylaktisch auf alle Pflanze, um einem möglichen Schaden vorzubeugen. Diese Methode war einfach: Die Mittel wurden mit dem Trecker versprüht. Das war's.

Jetzt muss Beckmann versuchen, den Blattläusen, der Eulenraupe, dem Apfelwickler oder dem Schorf mit natürlichen Mitteln beizukommen. Für einen Öko-Anfänger kein einfaches Unterfangen. „Das ist wie nochmal neu anfangen“, sagt er. 30 Prozent Ernteausfall bei den Äpfeln beklagte er im ersten Jahr. Nur durch seine Rücklagen konnte er den Schritt wagen. Die Umstellungsprämie von 1100 Euro pro Jahr und Hektar, die er von der niedersächsischen Landesregierung bekommt, reiche beim weitem nicht aus, sagt er.

Die Geschichte vom Ökowunderland Sikkim mag dagegen paradiesisch klingen. Doch auch hier war die Umstellung auf Bio kein Selbstläufer. Viele Bauern ließen sich zunächst nicht vom Nutzen des Ökolandbaus überzeugen. Am Anfang brach die Erntemenge ein, auch weil die Pflanzen nach der Umstellung – ähnlich wie Drogenabhängige auf kaltem Entzug – ohne ihre regelmäßige Dosis Pestizide und Kunstdünger für Schädlinge besonders anfällig waren. Das galt nicht zuletzt für die größte Teeplantage Sikkims, „Temi Tea“. Schon Mitte der 50er Jahre, als Sikkim noch ein eigenständiges Königreich war, wurde hier Tee angebaut. An den steilen Hängen gab es gute Ernten: 120 Tonnen im Jahr 2004, als die Plantage noch mit Pestiziden und Kunstdünger bewirtschaftet wurde. Als ein Jahr später auf Ökolandbau umgestellt wurde, ging der Ertrag um mehr als 50 Prozent zurück. Doch nach und nach erholten sich die Pflanzen, gewöhnten sich die Menschen an die neue, alte Art des Anbaus. Die Ernte ist heute wieder annähernd so hoch wie vor der Umstellung.

Heute verfügt Temi Tea über alle international wichtigen Bio-Zertifikate, und unter Teekennern gelten die zarten Blätter des First Flush, also der ersten Ernte nach dem Winter, als einer der besten Biotees weltweit. Auch die 400 Pflücker, zumeist Frauen, profitieren von der Umstellung. Zur Ernte bringen sie den gepflückten Tee in Körben zur Wiegestation. Sieben Kilo Teeblätter pro Tag ist das Ziel. Dann 
verdienen sie rund das Doppelte wie ihre Kolleginnen in den Teeplantagen des benachbarten Bundesstaats Darjeeling, wo die Teepflanzen überwiegend noch mit Pestiziden gespritzt werden. Pratik Gautam, der Manager der Biotee-Plantage, beobachtet das bunte Wirrwarr aus Gesprächen und Lachen vor der Waage. Hier leben die Arbeiter gesünder. Zufrieden sagt er: „Wir haben keine Haut- und Atemwegserkrankungen mehr, seitdem wir auf den Einsatz von Pestiziden verzichten.“ Die Zukunft der Teeplantage sieht er optimistisch. Bisher belieferte Temi Tea fast nur den indischen Markt. Jetzt steigt dazu die Nachfrage aus dem Ausland.

Kann Sikkim ein globales Vorbild sein? Könnte eine Landwirtschaft ganz ohne Pestizide und Kunstdünger die gesamte Menschheit ernähren? Für Urs Niggli, den Leiter des renommierten Forschungsinstituts für biologischen Landbau (Fibl) im schweizerischen Frick, ist diese Frage schon längst beantwortet. Seit 40 Jahren bauen die Wissenschaftler des Fibl auf ihren Forschungsfeldern Getreide und Gemüse sowohl auf konventionelle Weise als auch nach den Prinzipien des Ökolandbaus an, unter ansonsten exakt den gleichen Bedingungen. „Wir haben in den Biosystemen sehr hohe Erträge“, sagt Niggli. „Über alle Fruchtfolgeglieder gesehen, haben wir im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft nur ein Minus von 17 Prozent.“ Das heißt, dass alle angepflanzten Bio-Getreidearten auf einem Feld zwar ein knappes Fünftel weniger Erträge haben. Dafür habe man aber gesunde Böden und eine höhere Artenvielfalt vor allem bei Insekten und Ackervögeln, gibt Niggli zu bedenken. Und natürlich Lebensmittel ohne Pestizidrückstände.

Gleichzeitig, sagt Niggli, würden viele jener Folgekosten der konventionellen Landwirtschaft vermieden, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind und die die Allgemeinheit, nicht der Verursacher, trägt, beispielsweise die Überdüngung der Böden mit Nitraten. Vielerorts in Deutschland müssen die Stadtwerke das Trinkwasser aufwendig aufbereiten und legen die Mehrkosten dafür auf die Wasserpreise um. Auch die stärkere Bodenerosion oder die größere Gefahr von Hochwasserkatastrophen wegen der verringerten Wasserspeicherkapazität intensiv bewirtschafteter Böden sind bei den konventionell erzeugten Lebensmitteln nicht eingepreist.

Die Wissenschaftler von Fibl haben diese sogenannten externen Kosten in einer Studie für Österreich berechnet. Sie liegen dort demnach pro Jahr bei etwa 1,3 Milliarden Euro. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche in Deutschland ist sechs Mal größer. Dementsprechend dürften auch die Folgekosten in Deutschland um ein Vielfaches höher sein. In die Fibl-Kalkulation noch nicht einmal eingerechnet sind dabei jene Kosten, die durch die Abholzung der tropischen Regenwälder für Sojaanbau oder Palmölplantagen entstehen. Die riesigen Wälder absorbieren einen beträchtlichen Teil des jährlich emittierten CO2 und tragen so dazu bei, den Klimawandel abzuschwächen. Fehlt dieser Effekt, steigen die Temperaturen noch schneller. Für Urs Niggli gibt es deshalb nur einen logischen Ausweg aus der unseligen Praxis, die Umweltkosten zu externalisieren: Eine radikale Agrarwende hin zum Ökolandbau.

Sikkim unterdessen, das kleine Bio-Land im Himalaya, ist mittlerweile zu einem wahren Pilgerort geworden. In Gangtok, Sikkims Hauptstadt, finden regelmäßig internationale Kongresse zum Ökolandbau statt. Im Frühjahr letzten Jahres war der Glücksminister aus dem benachbarten Bhutan zu Gast. Auch dort soll eine Organic Mission die Menschen noch glücklicher machen. Im September wurde die Regierung von Sikkim im Hauptquartier der Weltagrarorganisation FAO in Rom mit dem Preis für die beste Agrarpolitik ausgezeichnet. Aus Deutschland reiste im Herbst eine Delegation der Grünen mit Ex-Ministerin Renate Künast nach Sikkim, um sich über die Organic Mission zu informieren.

Sikkims Ministerpräsident Pawan Chamling beobachtet den Trubel mit der inneren Gelassenheit desjenigen, der lange nachgedacht hat und sicher ist, nun das Richtige zu tun. Er sagt: „Mein Wunsch ist es, dass spätestens im Jahr 2050 alle Länder der Erde auf Ökolandwirtschaft umgestellt haben.“ Wer Pawan Chamling kennt, weiß, dass er es ernst meint. Er ist ein Visionär, und, wer weiß: Was er gerade anstößt, könnte sich im Rückblick einmal als ähnlich bedeutend herausstellen wie das Lebenswerk eines anderen, inzwischen weltberühmten indischen Visionärs, Mahatma Ghandi.

 

© Berndt Welz

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