Showdown in den Tropen

Die Regenwälder sind ein wichtiger Faktor dafür, wie stark der Klimawandel ausfällt. Mit einem Großversuch im brasilianischen Amazonasgebiet wollen Forscher herausfinden, wie sich der künftige Kohlendioxidanstieg in der Atmosphäre auf diese Wälder auswirkt. 

Text: Berndt Welz
Erschienen in: natur 07/19

Rote und gelben Streifen markieren die Äste. Akribisch zählt Bianca Rius ein Blatt nach dem anderen. Der Arbeitsplatz der Ökologin befindet sich in 30 Metern Höhe auf den Treppen eines Stahlturms, der so gar nicht in die unberührte Natur mitten im undurchdringlichen Dschungel am Amazonas passt. Zwischendurch schweift ihr Blick von hier oben über den größten Regenwald der Erde, einem scheinbar unendlich grünen Teppich aus uralten Bäumen. Vor einigen Jahren haben brasilianische Wissenschaftler dieses Stahlungetüm errichtet. Wäre es nicht hier, müssten Rius und ihre Kolleginnen für ihre Arbeit auf die Bäume steigen – mit dem nicht unerheblichen Risiko, der ein oder anderen hochgiftigen Spinne oder Schlange zu begegnen. 
Noch sind die dunklen Wolken, die einen der täglichen Regenschauer ankündigen, weit weg. Bianca Rius bleibt noch etwas Zeit. Ihre Kollegin, Sabrina Garcia, tippt in das Laptop, was Rius ihr sagt: die Nummer des Astes, die Anzahl der Blätter. Ast für Ast klappern sie ab, um zu sehen, ob es ein neues Blatt gibt. 

Blätterzählen im Regenwald, bei 30 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von oft 90 Prozent: Was wie eine Strafarbeit klingt, dient einem höchst sinnvollen wissenschaftlichen Zweck. Es geht darum, eine „Baseline“ zu schaffen, also eine Art Inventur über den Ist-Zustand der Bäume. Und das ist erst der Anfang. 

Die beiden Wissenschaftlerinnen sind Mitglieder eines internationalen Forschungsprojektes, an dem Wissenschaftler aus der ganzen Welt beteiligt sind. Sie bewegt eine für die Menschheit existenzielle Frage: Kann der tropische Regenwald den Klimawandel abschwächen, weil er der Atmosphäre einen Großteil des zusätzlichen Kohlendioxids entzieht? Ein spektakuläres Freilandexperiment mitten im Dschungel soll dabei helfen, diese Frage zu beantworten. 

„Amazon-Face“ heißt das Vorhaben. „Face“ steht für „Free-Air CO2 Enrichment“, auf Deutsch: CO2-Anreicherung unter Realbedingungen. Dafür werden Wälder künstlich mit Kohlendioxid „gedüngt“. Das Arrangement der Face-Anlage erinnert ein bisschen an einen steinzeitlichen Kultplatz: Ein Kreis aus 16 hoch aufragenden Stahl-Stelen umgibt das Versuchsfeld, ein „Plot“, in dem die ganz normale Regenwaldvegetation wächst – etwa Paranussbäume, Orchideen und Lianen. Ende des Jahres sollen vier dieser Plots, jedes mit einem Durchmesser von 30 Metern, täglich mit je einer Tonne Kohlendioxid gedüngt werden. Das Gas strömt von oben auf das Innere der Plots. 

Die Wissenschaftler wollen zehn Jahre lang das Wachstum der Bäume bestimmen, daneben auch den Umfang der Stämme, die Wurzelentwicklung, die Anzahl der Blätter, die Photosynthese, die Kohlenstoffkonzentrationen und die Menge an organischem Material, welches zu Boden fällt. Ziel der CO2-Düngung ist es, einen weiteren Anstieg des Treibhausgases um 50 Prozent im Vergleich zum jetzigen Gehalt in der Atmosphäre zu simulieren. Ansonsten bleiben alle Umweltbedingungen gleich wie in den vier 
„ungedüngten“ Vergleichs-Plots: Tag und Nacht, Sonne und Wolken, Trocken- und Feuchtperioden – und vor allem auch der Boden und seine Zusammensetzung. So erhoffen sich die Wissenschaftler realitätsnähere Ergebnisse im Vergleich zu einem Laborversuch. 
Die Wolken sind mittlerweile angekommen. Die beiden Wissenschaftlerinnen haben es noch rechtzeitig ins Camp geschafft. Jetzt schüttet es ohne Unterlass. Die braune Piste, auf der alles zum Leben Notwendige aus dem 70 Kilometer entfernten Manaus, der alten Kautschuk-Stadt am Amazonas, herangeschafft wird, verwandelt sich binnen Minuten in einen reißenden Schlammbach. 

Dem einstöckigen gemauerten Wohnbungalow mit seinen offenen Fenstern immerhin kann der Regen nichts anhaben. Rund 30 Forscher können hier gleichzeitig leben und arbeiten. Oben befindet sich der Schlafsaal mit einfachen Betten und Hängematten, unten lange Tische zum Arbeiten und Essen und an der Seite die Küche. Im Moment sind alle Betten und Hängematten belegt. Neben den brasilianischen Wissenschaftlern aus dem Amazonas-Forschungszentrum in Manaus und der Universität Campinas in Sao Paolo, die hier seit einem Jahr die Basisarbeit leisten, sind auch Forscher aus den USA und Deutschland gekommen: Klimaforscher, Biologen, Botaniker, Zoologen. Vor allem auch so genannte Modellierer wie etwa die Forscherin Anja Rammig und ihre Kollegen von der Technischen Universität München. 

Sie erhoffen sich durch das Experiment präzise Datensätze, mit denen sie ihre Klima- und Vegetationsmodelle und damit die Vorhersagen über den Klimawandel verbessern können. „Wir wissen aus Laborversuchen, dass mehr Kohlendioxid gut ist für die Photosynthese der Pflanzen. Das könnte für das Wachstum des Regenwaldes zunächst einen positiven Effekt bedeuten“, sagt Anja Rammig, die einige Jahre am renommierten Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung geforscht hat. Die deutschen Modellbauer arbeiten eng mit den Wissenschaftlern vor Ort zusammen, die täglich im Regenwald mühselig die Kleinarbeit leisten. 

Hier am Äquator soll sich möglichst realitätsnah zeigen, wie schnell die Folgen des menschengemachten Klimawandels eintreten – und wie genau sie ausfallen – könnten. Wie die Regenwälder sich künftig entwickeln, ist für das Weltklima von größtem Interesse.

Denn sie absorbieren 20 bis 30 Prozent des weltweit ausgestoßenen Kohlendioxids. Im Dschungel am Amazonas betreibt die Natur wie in allen tropischen Regenwäldern ein riesiges Kraftwerk, eine grüne Lunge, die gigantische Mengen CO2 aus der Luft aufnimmt. Der daraus gewonnene Kohlenstoff ist das Lebenselixier für die Pflanzen in ihrem täglichen Existenzkampf um den besten Platz zum Licht. Die immergrünen Bäume wandeln per Photosynthese das Kohlendioxid in die für sie zum Wachsen notwendige Glucose um und binden so den Kohlenstoff – in Stämmen, Ästen, Blättern und Wurzeln. Gleichzeitig geben sie Sauerstoff in die Umwelt ab. 

Dafür gibt es in diesen Breitengraden seit Millionen von Jahren beste Voraussetzungen. Am Äquator ist immer Sommer. Täglich scheint die Sonne prall und heiß vom Himmel und in den Regenwäldern ist genug Feuchtigkeit vorhanden, um einen eigenen Mikrozyklus aufzubauen: Wolken entstehen und regnen sich vor Ort wieder ab. 

Die tropischen Regenwälder zählen zu den so genannten CO2-Senken, da sie mehr Kohlenstoff binden als sie durch absterbende Bäume abgeben. Doch bis zu welchem Grad bei noch mehr Kohlendioxid in der Atmosphäre dieses auch zusätzlich von den Pflanzen zum Wachstum genutzt werden kann, ist unklar. Das soll das Face-Experiment klären. 

Aber der Regenwald macht es der Wissenschaft nicht leicht. Der Grund ist die unglaubliche Artenvielfalt: Auf zehn Quadratmetern kommt kaum eine Pflanzen- oder Baumart zweimal vor. Viele der Arten sind kaum erforscht, manche noch nicht einmal bekannt. Botaniker kommen da schon mal ins Straucheln. In Deutschland reihen sich Buchen- und Kieferwälder übersichtlich aneinander wie im Katasteramt die Akten. Face-Experimente sind in den gemäßigten Breiten relativ leicht zu bewerkstelligen. Das liegt auch daran, dass es nur wenige dominierende Baumarten gibt. Die Wälder in den Tropen dagegen mit ihren geschätzt 16.000 unterschiedlichen Baumarten sind für die Wissenschaft noch weitgehend Terra incognita: Man hat einige Annahmen über die Abläufe entwickelt, aber stochert bei vielem im Dunkeln. 

Zwar gibt es immer wieder Bemühungen, die tropischen Regenwälder zu kartographieren und zu vermessen wie im „Rainfor“-Projekt. In diesem Projekt sammeln Forscher seit 18 Jahren fleißig Daten von 400 verschiedenen Punkten im brasilianischen Regenwald. Doch Rainfor bildet nur den Ist-Zustand ab. Mit der Düngung bei „Amazon-Face“ können die Wissenschaftler die Zukunft simulieren. 

Als Bianca Rius und Sabrina Garcia wieder beim Blätterzählen sind, setzt abermals ein heftiger Regen ein – und dieses Mal können den beiden nicht einmal ihre Regencapes helfen. Sie werden völlig durchnässt. Der Schauer überrascht sie an einem weiteren Versuchsobjekt, das die Wissenschaftler mitten im Wald errichtet haben: eine drei Meter hohe gläserne Kammer, die einen Baum zu den Seiten umschließt, nach oben aber offen ist. In dieser sogenannten „Open Top Chamber“ wird im Kleinen schon einmal das Face-Experiment erprobt. Der Baum im Inneren der Kammer wird täglich mit einigen Kubikmetern Kohlendioxid künstlich gedüngt. 

Ergebnisse des Experiments liegen noch nicht vor, da zwei der Kammern erst seit einigen Wochen in Betrieb sind. „Was wir hier tun, ist Pionierarbeit. Wir werden das Ökosystem Regenwald mit unseren Forschungen neu kennenlernen“, sagt David Lapola von der Universität Campinas, der zusammen mit Anja Rammig das Projekt entwickelt hat. Die Glaskammern zu errichten war für die Forscher ein Leichtes verglichen mit den Herausforderungen, die beim Face-Projekt auf sie zukommen. 

Der Bau der 36 Meter hohen Stelen aus Stahl ist dabei nur eine der Herausforderungen. Die vielleicht noch größere ist die Frage, wie das Kohlendioxid aus dem 70 Kilometer fernen Manaus in den Urwald kommt. Vier Tonnen des Gases sollen pro Tag in die Versuchsfelder gesprüht werden. Der Transport mit Helikoptern oder der Bau einer Pipeline kommen wegen zu hoher Kosten nicht in Frage. Projektleiter David Lapola präferiert daher einen ehemaligen Raketentransporter der tschechischen Armee, auf dem ein Kohlenstofftank montiert werden soll. Damit die Reifen auf der Piste zum Camp nicht im Schlamm versinken, müsste diese aber erst noch geteert werden. In jedem Fall wird das Projekt teuer. Rund zehn Millionen Dollar soll es kosten. Das Geld soll über Entwicklungsbanken, Hochschulbudgets und Sponsoren aufgebracht werden. 

Bisher kann man nur spekulieren, wie viel Kohlendioxid der Regenwald aufzunehmen vermag. Die Untersuchungen der brasilianischstämmigen Forscherin Adriane Esquivel Muelbert von der Universität Leeds, die mit Kollegen in den letzten 30 Jahren Bäume und Pflanzen in 106 entlegene Parzellen im Amazonas-Regenwald untersucht hat, geben zwar erste Hinweise auf den Einfluss des Klimawandels. Demnach steigen die Perioden extremer Dürre und extremer Regenfälle an. Innerhalb von zehn Jahren gab es in den untersuchten Arealen drei schwere, ungewöhnliche Dürrezeiten: 2005, 2010 und 2015. Doch auch diese Methode dokumentiert nur den Ist-Zustand. 

In den letzten Jahren gab es Face-Experimente schon in gemäßigten Breiten, etwa den USA, Deutschland und der Schweiz. Alle haben gezeigt, dass die Wälder nicht unbegrenzt CO2 aufnehmen können. Was die zukünftigen Konsequenzen für den Regenwald sind, dazu haben die am Face-Experiment beteiligten Forscher verschiedene Hypothesen, die sie nun einem Praxistest unterziehen möchten. 

Das Szenario, das sie derzeit als wahrscheinlichstes einstufen, ist alles andere als beruhigend, Das zeigt sich bei einer Diskussion in einem Vortragsraum des Amazonas-Forschungsinstituts in Manaus, in dem sich die Wissenschaftler versammelt haben, um über die Szenarien zu diskutieren. Projektleiter David Lapola zeigt eine Karte, auf der die Fläche des südamerikanischen Regenwaldes abgebildet ist. „Steigen die globalen Temperaturen weiter an, werden wohl große Teile der Regenwälder austrocknen und zu Savannen werden“, befürchtet Lapola. Das zusätzliche Kohlendioxid mildert diesen Effekt zwar zunächst ab. Doch wie lange, das ist unklar. Denn irgendwann können die Bäume kein zusätzliches Kohlendioxid mehr aufnehmen. Wie der Mensch Vitamine, Aminosäuren, Eiweiß und Fette zum Leben braucht, benötigen Pflanzen neben Zucker weitere Nährstoffe. Einer der wichtigsten ist dabei Phosphor. Den benutzen die Pflanzen vor allem für den Aufbau von Pflanzenenzymen, für das Wurzelwachstum und für ihr Immunsystem. Der Kohlenstoff kommt aus der Luft, das Phosphor aus dem Boden. 

Doch der Regenwald-Boden ist extrem phosphorarm, ein Großteil der Wurzeln wächst deswegen an der Oberfläche. Die Vermutung der Forscher: Irgendwann kann der Wald wegen der Phosphorarmut keinen Kohlenstoff in seiner Biomasse, also in den Wurzeln, den Ästen und den Stämmen, mehr aufnehmen. Aufgrund des Temperaturanstiegs könnten zudem weite Teile des Regenwaldes austrocknen und zur Savanne werden. Die Konsequenzen für die Tier- und Pflanzenwelt, für das Mikroklima des Regenwaldes und die gesamte Ökologie wären verheerend. 

Und damit könnte sich ein wichtiger Effekt umkehren: Der Regenwald würde von einer CO2-Senke zu einem CO2-Quelle. Dann könnte der Klimawandel noch beschleunigt werden. Es ist einer jener „Kipppunkte“ des Klimasystems, die Forschern große Sorge bereiten. Diese Ereignisse könnten dazu beitragen, dass die Klimaerwärmung sich selbst verstärkt und die Folgen viel verheerender ausfallen als die Klimawandel-Prognosen es bisher vorhersagen. 

Wie wahrscheinlich dieses Selbstverstärkungs-Szenario für den südamerikanischen Regenwald ist, auch soll das Face-Experiment in Brasilien zeigen. Ende 2019 soll es starten. Bis dahin haben die Wissenschaftler noch einige Hürden aus dem Weg zu räumen. Neben den logistischen Problemen und der Finanzierung zählen dazu inzwischen auch die unberechenbaren politischen Konstellationen in Brasilien. Denn das Projekt wird federführend vom brasilianischen Wissenschaftsministerium geleitet, und das ist dem neuen Regierungschef, Jair Bolsonaro, unterstellt. Der rechtsnationale Präsident hat wenig für die Klimaforschung übrig und viel für Rinderfarmer und Sojabauern. Die Befürchtung: Um die heimische Agrar- und Holzwirtschaft anzuschieben, wird er womöglich Schutzgebiete im Regenwald zur Abholzung freigeben. Damit würde der Klimawandel auf jeden Fall weiter angeheizt – um das herauszufinden, braucht es keine aufwendigen Experimente. 

Die Befürchtung der Wissenschaftler ist, dass der Präsident auch das Face-Experiment zum Erliegen bringen könnte, bevor es überhaupt begonnen hat. Bei David Lapola trifft die Politik Bolsonaros auf völliges Unverständnis: „Viele Millionen Menschen hier und in den Städten weltweit denken, dass sie der Regenwald nichts angeht. Dabei sichert sein Ökosystem die Lebensgrundlagen der Menschheit.“ 

Sicher ist, dass ohne die uralten Regenwälder der Treibhauseffekt katastrophaler ausfallen würde als bisher angenommen. Das Ziel des Pariser Klimaabkommens, den globalen Temperaturanstieg auf maximal zwei Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, wären ohne die Existenz der Regenwälder Makulatur. 

Als der Regen aufhört, kehrt Stille ein im Amazonas-Wald. Nur eine Stimme erhebt sich zwischen den Bäumen. Es ist ein Schrei, der Nichtwissenden die Haare aufstellt – als ob gleich ein Tyrannosaurus rex durch die Blätterwand bricht. 

Es ist glücklicherweise nur die kräftige Stimme eines Brüllaffen, sein Lärmen ist wohl gegen einen Konkurrenten gerichtet. Doch vielleicht sollten wir uns nicht zu sehr mit dem beruhigen, was ist. Vielleicht sollten wir unserer Fantasie öfter mal genehmigen, sich mit dem zu beschäftigen, was sein könnte. Dann beispielsweise, wenn der Klimawandel ungebremst weitergeht. Denn eines ist, unabhängig von dem Ausgang des Face-Experiments, selbst für die optimistischsten Wissenschaftler kaum vorstellbar: dass der Regenwald auf Dauer dem Klimawandel standhält. 

© Berndt Welz

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