Widerstand mit Mikrofon

Dem Amazonas droht der Ausverkauf. Uralte Bäume werden abgeholzt für Sojaplantagen, Goldritter vergiften die Flüsse mit Quecksilber. Im ecuadorianischen Teil wollen Konzerne Öl aus dem Urwaldboden fördern. Drei indigene Frauen setzen sich dagegen mit einer ungewöhnlichen Methode zur Wehr. 

Text: Berndt Welz
Erschienen in: natur 01/21

Don Guido ist ein Mann mit warmen, friedlichen Augen. Kaum zu glauben, dass er als Kind noch miterlebte, wie sein Volk in einer Blutfehde mit anderen Stämmen im Regenwald lag, die vor 50 Jahren ihr Ende fand. Jetzt sitzt der spirituelle Führer des Achuar-Volkes in seinem nach drei Seiten offenen, mit Palmzweigen bedeckten Rundhaus an einer kleinen Feuerstelle. Immer wieder nippt er aus einer Schale Guayusa-Tee. Das Getränk ist auch Teil eines Rituals, das viele Stämme im Amazonasbecken vollziehen. Die Menschen stehen dafür nachts auf, um sich von ihren Träumen zu berichten und sie zu deuten. Heute aber erzählt Don Guido eine reale Geschichte: aus jener Zeit, als die italienischen Missionare mit dem Kanu in das Dorf Washirpas kamen und sich die stolzen Kriegernomaden der Achuar in friedliebende Urwaldbewohner verwandelten.

Drei Aufnahmegeräte hängen dabei buchstäblich an den Lippen des Stammesführers. Die Hände, die sie halten, gehören Mariana Canelos, Jiyun Uyunkar und Rupay Sumak. Die drei Frauen betreiben einen der ungewöhnlichsten Radiosender der Welt: „Radio Remando“ gibt den Regenwaldbewohnern eine Stimme. Die Journalistinnen stammen selbst aus dem „Selva“, dem Regenwald. Sie berichten regelmäßig über das Leben, die Lieder, die Feste. Und nicht zuletzt über den Widerstand der Menschen gegen die Pläne der Regierung und der Erdölkonzerne, das schwarze Gold aus dem Boden des ecuadorianischen Regenwaldes zu fördern. 
Noch unberührter Regenwald 

Washirpas liegt drei Tagesreisen mit dem Kanu von der nächsten Stadt entfernt, an einer der schönsten Flusslandschaften der Erde: dem Rio Pastaza, der in den ecuadorianischen Anden entspringt und nach 740 Kilometern in den Amazonas mündet. Der Regenwald ist hier noch völlig unberührt. Washirpas ist eines der Ziele, das sich die drei Radiofrauen auf ihrer Reise zu den indigenen Völkern vorgenommen haben. 

Don Guido erzählt ihnen von Pater Luis Bolla, einem Salesianer-Mönch, der vor 50 Jahren aus Italien in den Urwald kam. Zunächst waren die Achuar ihm gegenüber feindselig gestimmt. Dann luden sie den frommen Mann zu einer Schale Guayusa-Tee ein. Dabei merkten sie, dass der Priester nicht nur ein Diener Gottes war, sondern vor allem für ihre Belange einstand. Die Achuar konvertierten dank des Paters, den sie in ihrer Sprache „Yánkuam“, Stern des Nachmittags, nannten, später zum Christentum. Luis Bolla blieb bis zu seinem Tod im Januar ihr Freund und Vertrauter. Er akzeptierte sogar, dass der christliche Gott nicht der einzige bei den Achuar sein sollte. Der Stamm ist tief verwurzelt mit dem Regenwald, spirituell mit ihm verbunden. Fast überall stecken die Kräfte der Götter – ob in den Flüssen, den Bäumen oder den Tieren. 

Am Wasserfall nahe der Siedlung zum Beispiel lebt Arutam, zu dem die Menschen vor allem in Vollmondnächten kommen, um sich bei ihm Hilfe zu holen. Don Guido führt die Radiomacherinnen zu der Stelle. Kurz darauf beginnt ein traditionelles Reinigungsritual für die Seele und den Körper. Zunächst schnupfen die Frauen flüssigen Tabak. Anschließend baden sie in den Kaskaden. Für Radio Remando ist das der Stoff, aus dem die Programme sind. Sie dokumentieren die tiefe Demut vor der Natur und ihren Kräften. „Wir zeigen, wie die Menschen leben, mit ihren Traditionen und ihren Feiern“, sagt Mariana Canelos. „Wir möchten die Verbundenheit zwischen Mensch und Natur spürbar machen und die Lebensfreude.“ 

Diese innige Verbindung zeigt sich auch auf den Feldern. Eines der Grundnahrungsmittel der Achuar ist Maniok. Die Wurzel wird gerne als Zutat zu Fisch gegart oder gekocht. „Die Frauen singen zu Ehren von Nankjui, der Mutter aller Pflanzen: ‚Ich pflanze dich mit der Reinheit meiner Hände und du schenkst mir eine reiche Ernte.‘ Sie bitten um Schutz für die Saat und reiche Erträge“, berichtet Jiyun Uyunkar, die in Washirpas geboren wurde. 

Die 31-Jährige gilt unter den Frauen des Dorfes als Exotin. Ihr Vater war lange spiritueller Führer der Achuar, ihre Mutter starb früh. Sie musste schon als Kind vieles selbständig erledigen. Die tradierte Rolle der Achuar-Frauen – Kinder, Feldarbeit, Kochen, Waschen – hat sie nicht gewählt. Stattdessen zog Jiyun Uyunkar nach Puyo, eine Kleinstadt am Rande des Regenwaldes. Heute hat sie zusammen mit einem französischen Entwicklungshelfer eine kleine Tochter. Sie weiß, wie das Leben draußen, jenseits des Waldes, funktioniert. Sie kennt die Nachrichtenlage, hat Kontakt zu Umweltorganisationen, setzt sich ein für die Rechte der indigenen Frauen und kämpft gegen die Regierung, die mit Rohstoff-Erschließungsplänen das Leben in ihrer Heimatgemeinde bedroht. 

Jiyun Uyunkar erzählt von den Regenwalddörfern im Norden, wo mit den neuen Ölförderanlagen auch die Arbeiter aus den Städten kamen und Straßen tiefe Schneisen in den Regenwald brachen. Viele Indigene verließen daraufhin ihre Gemeinden. „Es kommt dann oft, was kommen muss“, sagt sie. „Viele werden arbeitslos und gehen in die Prostitution. Die Frauen hier haben Angst um ihre Kinder.“ 

Einige indigene Völker ziehen sich angesichts der Bedrohung ihrer traditionellen Lebensweise noch tiefer in die Wälder zurück, in die geschützten „verbotenen Zonen“, in die Fremde nur mit der Erlaubnis der Regierung reisen dürfen. Doch ist das die Lösung? Die drei Radiofrauen sind da anderer Meinung. Sie glauben: Nur offener, lauter Widerstand verspricht wirklich Erfolg. Und sie sehen das Recht auf ihrer Seite. Denn eigentlich steht in der ecuadorianischen Verfassung schwarz auf weiß, dass die Erschließung von Erdöl in den von Indigenen bewohnten Gebieten verboten ist. Auch die Regierung war lange Zeit dieser Auffassung. 

Mit den Ölkonzernen kam der Krebs 

In den frühen 2000er Jahren kamen in vielen Ländern Lateinamerikas nach und nach sozialistische Parteien an die Regierung, etwa in Bolivien, Venezuela, Brasilien und auch Ecuador. Unter Präsident Rafael Correa entstand sogar die Vision, sich vom Kapitalismus abzuwenden. Denn man hatte seit Ende der 1960er Jahre schlechte Erfahrungen mit westlichen Konzernen gemacht. Damals waren die ersten Ingenieure aus Texas gekommen, um in Ecuadors Regenwäldern nach Erdöl zu suchen. Sie wurden fündig. Bald darauf folgten die Ölkonzerne. Für die Erschließung und den Transport wurde sogar eine Kleinstadt am Rande des Regenwaldes gebaut. Ihr Name: Shell, nach dem niederländischen Ölmulti, der das Gebiet zu Beginn der ersten Bohrungen exklusiv erschließen durfte. 

Der Öl-Rausch machte die Menschen vor Ort krank und die Umwelt kaputt. Undichte, korrodierende Rohre ließen Erdöl versickern, mit verheerenden Folgen: In vielen Gebieten ist das Grundwasser verseucht, sind die Böden vergiftet. Die Rate der Krebserkrankungen in der Regenwaldprovinz Orellana ist mit die höchste auf dem südamerikanischen Kontinent. 30 000 Betroffene verklagten im Jahr 2011 den US-Konzern Texaco, der mittlerweile zu Chevron gehört. Texaco soll zwischen 1964 und 1992 Flüsse und Seen im Amazonasgebiet mit Sondermüll und Rohöl vergiftet haben. Chevron wurde im Jahr 2013 von einem ecuadorianischen Gericht zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 9,5 Milliarden US-Dollar verurteilt. Bis heute warten die Kläger auf das Geld, weil der US-Konzern das Gericht nicht anerkennt. 

Kein Wunder also, dass Ecuador nach neuen Investoren suchte. Seit einigen Jahren kommen sie vor allem aus China. Staudämme, Straßen und andere Großprojekte wurden mit dem asiatischen Partner finanziert. Da Devisen fehlen, sollten die Infrastrukturschulden mit Öl bezahlt werden, so der Plan der ecuadorianischen Regierung. In Zeiten steigender Erdölpreise wäre diese Strategie aufgegangen. Doch der Rohölpreis fällt seit Jahren. Der Staat Ecuador sitzt in der Klemme. Der Druck, die Förderquote zu erhöhen, nimmt zu. Neue Ölfelder im Regenwald sollen deshalb erschlossen werden. 

Im Jahr 2017 demonstrierten Tausende Regenwaldbewohner in Ecuadors Hauptstadt Quito, um vor den Präsidentschaftswahlen gegen die Ölförderpläne zu protestieren. Die indigenen Regenwaldbewohner fühlten sich verraten. Der Traum vom „Sumak Kawsay“, einem selbstbestimmten Leben im Einklang mit der Natur, und von der Abkehr vom Kapitalismus, die Ecuadors Präsident Rafael Correa vollmundig versprochen hatte, schien sich in Luft aufzulösen. 
Der Anfang des Regenwaldradios 

Diese Demonstration war auch der Beginn von „Radio Remando“. Unterstützung fanden die Frauen in Siegmund Thies, einem Journalisten und Entwicklungshelfer. Der gebürtige Detmolder war im Jahr 1993 erstmals für eine NGO nach Ecuador gekommen, produzierte Filme für die Welthungerhilfe und Misereor, auch für Arte, ARD, ZDF und die BBC. Doch Thies war von Anfang an auch die Medienarbeit mit den Menschen vor Ort wichtig. Sein Ziel war, dass nicht Westler über sie berichten, sondern sie selber ihre Situation journalistisch aufbereiten. Deswegen gab Thies jungen indigenen Menschen aus dem Regenwald seine Erfahrung als Radioreporter und Dokumentarfilmer weiter. „Radio ist in Südamerika viel wichtiger als in Europa. Du kannst damit richtig Menschen bewegen“, erklärt er. Mittlerweile können viele Stämme auch im Regenwald Internetradio empfangen. Dort, wo keine Parabolantennen sind, bekommen die Einwohner USB-Sticks mit Podcasts zum Anhören. 

Thies hatte Mariana Canelos, eine der drei Frauen, in einem seiner Workshops kennengelernt. Er brachte ihnen dann das Radiomachen bei und verhalf ihnen mit einer Weihnachtsspendenaktion eines Kölner Vereins zu digitalen Aufnahmegeräten. Der Journalist wurde in Ecuador auch zum überzeugten Feministen. Seine Überzeugung dafür entspringt einer etwas zugespitzten Erkenntnis: „Wenn die Frauen im Regenwald nicht wären und sich um alles sorgen würden, würden die Männer verhungern. Deswegen haben sie meiner Meinung nach auch einen Anspruch darauf, dass die Männer ihre Macht teilen“, sagt Thies. Im Regenwald haben die Männer seit Hunderten von Jahren das Sagen. Dieses eherne Gesetz durchbrechen die Bewohner Sarayacus, einer Siedlung am Rio Bobonaza. Sarayacu steht bei den drei Radiofrauen auf der Liste der Rechercheziele ganz oben. 

Als sich die Journalistinnen mit ihrem acht Meter langen Einbaum dem Ufer nähern, hören die Kinder nur kurz auf, im Wasser zu spielen. Sie winken freundlich und tauchen dann wieder ab. Fremde sind nichts Besonderes in diesem ungewöhnlichen Dorf. Es wurde weltberühmt als Dorf der Rebellen, immer wieder kommen Journalisten und andere Besucher. 

Das Dorf hat eine eigene Solaranlage, eine Satellitenschüssel und ist so bestens mit der ganzen Welt vernetzt. Eine Abordnung von Jugendlichen aus Sarayacu war Ende 2019 bei der Weltklimaschutzkonferenz in Madrid mit der Fridays-for-Future-Initiatorin Greta Thunberg aufgetreten. 

In diesen Tagen wollen die 1200 Einwohner ein großes Fest zu Ehren des Regenwaldes und der Dorfgemeinschaft feiern. Die drei Radiofrauen wollen darüber in ihrem Programm berichten. Auch Siegmund Thies ist dabei, er dreht für das ZDF einen Dokumentarfilm aus der Sicht der Radiomacherinnen. Er sagt: „Wir in Europa berichten immer nur über die Einwohner des Regenwaldes. Ich möchte Filme mit ihnen zusammen machen.“ Viele Jahre benötigte der 64-Jährige, um das Vertrauen der indigenen Bewohner zu erlangen. Dass Sarayacu heute sogar über eine eigene Filmcrew verfügt, ist sein Verdienst. 

Ihren bislang wichtigsten Einsatz – der, der Sarayacus Ruhm als Rebellendorf begründete – hatten die einheimischen Filmemacher im Jahr 2011. Die Regierung Ecuadors hatte dem argentinischen Erdölkonzern CGC erlaubt, im Stammesgebiet Sarayacus Probesprengungen vorzunehmen, von denen die Einwohner nichts wussten. 

Bewaffnete Soldaten, mutige Frauen 

Auf den Videos der Filmgruppe sind dramatische Szenen zu sehen: Ölarbeiter mit gelben Helmen werden von einem Hubschrauber abgesetzt. Als die Dorfbewohner sich wehren, tauchen schwerbewaffnete Soldaten auf. „Die Frauen von Sarayacu hatten Angst, dass das Militär ein Blutbad unter ihren Männern anrichten würde“, erzählt Thies. Darauf kam ihnen eine Idee. Die Männer zogen sich in den Wald zurück. Auf den Filmausschnitten ist zu sehen, wie die Frauen den Soldaten die Gewehre entreißen und in Verhandlungen deren Abzug erreichen. Seitdem sind die Frauen von Sarayacu an allen wichtigen Entscheidungen des Dorfes beteiligt. 

Das Regenwaldfest von Sarayacu dauert drei Tage und drei Nächte. Männer und Frauen tanzen zum monotonen „Bong Bong“ der Trommeln. Sie trinken dabei Chicha, einer Art Bier aus Maniok. Es ist eine wilde Party, bei der die Frauen sich wie Derwische im Kreis drehen und ihre hüftlangen Haare flattern lassen. Irgendwann fangen sie an, sich gegenseitig mit Chicha-Bier zu überschütten. Auf der Tanzfläche ist von den emanzipatorischen Errungenschaften der vergangenen Jahre wenig zu sehen. Mit ihren martialischen Felljacken und Hüten aus Vogelköpfen erinnern die Männer an jene Zeiten, als sie noch Krieger und uneingeschränkte Herrscher des Regenwaldes waren. Stolz recken sie ihre Messer hoch. Schaft und Klinge allerdings sind nicht mehr aus Stahl, sondern aus stumpfem Holz. 

Die Waffen von früher sind wirkungslos geworden in den Kämpfen von heute. Dafür haben einige Gemeinden im Regenwald gelernt, sich mit neuartigen Methoden zur Wehr zu setzen. Mit dem Digitalradio erreichen Mariana Canelos, Jiyun Uyunkar und Rupay Sumak nicht nur die indigenen Stämme im Amazonas. Mit dem mehrsprachigen Programm können sie auch weltweit die Menschen über die Situation vor Ort aufklären. Denn es geht nicht um ein Ölfeld mehr oder weniger. Hier, im größten Regenwald der Erde, entscheidet sich auch, ob die Menschen die Klimakatastrophe beherrschen werden. Wird er weiter zerstört, gelangen enorme Mengen Kohlendioxid in die Atmosphäre. Der Planet würde noch mehr aufgeheizt werden. Diese Gedanken begleiten auch die Frauen immer wieder. Selbst an diesem Morgen, an dem Mariana Canelos allein am Ufer des Rio Bobonaza sitzt. Der Nebel zieht über seine Oberfläche und die unzähligen Stimmen des Waldes dringen zu ihr. 
Mit sanfter Stimme spricht sie ihren Text für die nächste Sendung in ihren Rekorder: 
„Wir nehmen so viel mit von dieser Reise. Und jetzt ist der Moment gekommen, allen auf der Welt davon zu berichten – mit unserem Radioprogramm.“  

© Berndt Welz

Dokutopia Facebook Dokutopia Instagram Dokutopia LinkedIn