Immer mehr Insekten verschwinden. Schon kurz nach der Zulassung von Neonicotinoiden, besonders gefährlichen Insektiziden, gab es Hinweise, dass diese auch bei korrekter Anwendung Bienen schädigen. Recherchen belegen, dass der Hersteller, die Bayer AG, offenbar schon früh um die Gefahren der Substanzen wusste – und dennoch ein Verbot über Jahrzehnte verzögerte.
Text: Berndt Welz / Redaktionelle Mitarbeit Frankreich: Margarete Moulin
Erschienen in: natur 3/20
Christoph Koch beißt genüsslich in eine schneeweiße Naturwabe. Der Imker saugt den herausfließenden goldgelben Honig auf, sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. „Bienen sind fantastische Geschöpfe“, sagt er. „Es ist stockdunkel da drin im Stock, und die machen so eine präzise Wabe. Das ist ja auf den Millimeter genau.“ Momente wie diese machen ihn glücklich. Koch ist Imker aus Leidenschaft. Bereits in der vierten Generation hält seine Familie in der Ortenau Bienen. Noch nie hatten sie mit Pestiziden größere Probleme gehabt. Bis zu jenem Tag im April 2008. Das war das Ende der vergleichsweise heilen Welt, wie Christoph Koch sie kannte. Und der Anfang seines Kampfes gegen einen übermächtigen Gegner: die Bayer AG, einen der weltweit größten Hersteller von Pestiziden.
Mit den Treckern der Bauern zieht an jenem Frühlingstag eine todbringende Katastrophe auf. Die Landwirte säen, erstmals im Rheintal, einen Mais-Saatguttyp mit dem Namen Poncho Pro aus. An den Körnern klebt ein rotfarbenes Insektizid aus der Wirkstoffgruppe der Neonicotinoide: Clothianidin. Beim Aussäen entsteht ein Abrieb, der in rosa Wolken über die Felder zieht. Er bringt 50.000 Bienenvölkern den Tod. Christoph Koch verliert in diesem April alle seine 236 Völker. „Ich konnte tagelang nicht zu den Stöcken. Überall roch es nach verwesten Tieren“, sagt er.
Offiziell war es ein Unfall: Bei der Aussaat hätten die pneumatischen Saatgutmaschinen versagt. Durch den so verursachten übermäßigen Abrieb ist der Giftstaub in die Luft gelangt. Die Bienen starben an einer Überdosis Neonicotinoide. Doch Koch glaubt bis heute, dass die Neonicotinoide auch in geringeren Dosen Bienen töten oder zumindest nachhaltig schädigen. Er ist überzeugt, dass die Gifte seit Anfang der 90er Jahre die Ursache für das zunächst mysteriöse Schrumpfen der Bienenvölker sind. Manche Völker waren einfach leer geflogen, mitten in der Bienensaison und bei bestem Wetter.
550 Kilometer nördlich von Kochs Heimatgemeinde Oppenau, in den Niederlanden, befindet sich die ehemalige Hansestadt Zutphen. Dort sitzt Henk Tennekes in einem schmucklosen Raum eines Reha-Centers. Der unabhängige Toxikologe, der unter anderem einige Jahre am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg geforscht hat, beschreibt in mehreren Büchern den Rückgang von Insekten und Vögeln durch die Neonicotinoide. Jetzt erholt er sich gerade von einer Lungenentzündung. Tennekes forscht schon seit vielen Jahren über die Neonicotinoide. Im Gegensatz zu anderen Insektiziden, wie Pyrethroiden oder Organophosphaten, werden die Neonicotinoide meistens nicht versprüht, sondern werden an das Saatgut gebeizt in den Boden eingebracht. Wenn die Sprösslinge durch den Boden schießen, wandern die Gifte in der Pflanze mit dem Saftstrom von der Wurzel bis in die Stengel, Blätter und auch in die Blüten. Frisst ein Schädling an der Pflanze, vergiftet er sich sofort.
Für Henk Tennekes macht diese Methode die Gifte, die außer von Bayer beispielsweise auch von Syngenta und BASF in großem Stil produziert werden, zu den gefährlichsten Insektiziden, die es je gab: „Dadurch wird die ganze Landschaft giftig für Insekten“, sagt Tennekes. Neonicotinoide sind so besonders, weil sie mehrere ungünstige Eigenschaften in sich vereinen. Sie sind wasserlöslich und können bei Regen leicht ausgewaschen werden. Zweitens sind sie sehr mobil und auch stabil im Boden und im Wasser, dadurch verbreiten sie sich schnell in der ganzen Umwelt. Zum Dritten sind sie hochgiftig für sehr viele Insekten, nicht nur für die Schädlinge. Für Henk Tennekes sind diese Eigenschaften fatal für die Artenvielfalt: „Man kann die Vermutung äußern, dass es zu einem Insektensterben kommen wird. Und wenn die Insekten verschwinden, kollabiert das System. Das ist ein ökologisches Armageddon. Wir sind dabei, die ganze Natur zu vernichten.“
Zwar hat dies auch die EU erkannt und auf Grundlage von 1500 ausgewerteten Studien drei der fünf zugelassenen Neonicotinoide im Freiland wegen der Gefahr für die Bienen verboten. Doch das war erst im Jahr 2013. Seit der Zulassung von Imidacloprid, des ersten Neonicotinoids, waren bis dahin schon 26 Jahre vergangen. Henk Tennekes und Christoph Koch glauben, dass es Bayer und den anderen Produzenten mit fragwürdigen Methoden gelungen ist, ein früheres Verbot zu verhindern. Obwohl schon früh klar gewesen sei, welche verheerenden Folgen die Bayer-Gifte haben, hätten die meisten EU-Länder und deren Behörden versagt.
Für Bayer ging es um viel, denn mit seinen Neonicotinoide wurde der Konzern schnell Weltmarktführer bei Insektiziden. Von 1992 bis 2017 wurden allein in Deutschland 3700 Tonnen des Wirkstoffes verkauft. Bayer und nach Auslaufen des Patentschutzes schon bald auch andere Produzenten wie Syngenta und BASF vertreiben verschiedene Varianten der Insektizide in über 100 Ländern.
Frankreich, im Jahr 1992
Die ersten Beschwerden kamen schon bald nach der Einführung aus Frankreich, wo 1992 Imidacloprid, das erste Neonicotinoid, für alle EU-Länder zugelassen wurde. Französische Landwirte setzten es schon bald im Sonnenblumenanbau ein. Dass die von japanischen Bayer-Wissenschaftlern entwickelten Insektizide zumeist nicht versprüht, sondern an das Saatgut geklebt und mit Maschinen hydraulisch in den Boden gepresst werden, galt zu dieser Zeit als revolutionär. Eine Art Wunderpestizid, erfunden von Bayer.
Nur der Schädling sterbe, behauptet der Konzern bis heute, keine anderen Tiere. Und die Landwirte kämen mit dem hochgiftigen Stoff nicht in Kontakt, denn das Gift bleibe nach der Aussaat in der Pflanze.
Doch schon bald bemerkten französische Imker, dass ihre Bienen massenweise in den Sonnenblumenfeldern verendeten. Schon auf der Jahreshauptversammlung der französischen Berufsimker 1996 zeigte sich das Problem im ganzen Ausmaß. Ein Imker aus dem Loiret meldete sich: „Ich habe Bienenstöcke, die sich innerhalb von drei, vier Tagen leeren. Ich habe keine Bienen mehr darin, aber am Boden liegen tote Bienen – so viele, dass es knirscht, wenn man darüber geht." Immer mehr Imker machten die gleichen Beobachtungen. Henri Clement war zu dieser Zeit Präsident der französischen Imker „Zunächst dachten wir, dass es die Varroamilbe sei, ein schlimmer Parasit“, erinnert er sich. „Aber dann fiel der Verdacht auf die Neonicotinoide.“
Die Imker zwangen das Landwirtschaftsministerium, eine Projektgruppe einzuberufen, die die Vorfälle aufklären sollte. Neben Wissenschaftlern und Mitarbeitern aus dem Ministerium saßen auch vier Bayer-Berater in dem Gremium. Für den beteiligten Toxikologen Jean-Marc Bonmatin vom renommierten nationalen Forschungsinstitut CNRS in Orleans ein Unding: „Es ist absolut anormal, dass ein Unternehmen, über dessen Produkte ja letztlich entschieden werden muss, bis ins Detail beteiligt ist – auch an der Finanzierung und an der Redaktion der Ergebnisse.“ Die Projektgruppe des Agrarministeriums rief einen Feldversuch ins Leben, der klären sollte, ob die Bayer-Gifte für das Bienensterben ursächlich waren. Hierzu sollten einige Felder mit Neonicotinoiden behandelt werden, andere nicht. Die Idee war also einfach.
Doch der Versuch brachte keine Ergebnisse. Es gab schlichtweg bei beiden Feldern Bienenschäden. Bonmatin war irritiert. Eigentlich sollte er nur das Feld mit den Bayer-Giften analysieren, nicht aber das Kontrollfeld. Doch als er die Analysedaten des Kontrollfeldes einsehen konnte, wurde ihm der Grund bewusst: Auch die Kontrollfelder waren mit Fungiziden und Insektiziden behandelt worden. „Das erschien uns nicht normal für eine Versuchsreihe dieser Qualität“, sagt der Toxikologe. „Aber unsere Beschwerde fand beim Leitungskomitee dieser Studie kein Gehör.“ In den französischen Medien wurde diese offensichtlich wissenschaftlich unsinnige Studie trotzdem zitiert: Die Neonicotinoide wurden, ganz im Sinne des Chemiekonzerns, zunächst vom Bienenkiller-Verdacht freigesprochen.
Aber Bonmatin ließ nicht locker. Der Wissenschaftler fühlte sich nicht nur getäuscht, sondern auch in seiner Würde gekränkt. Im Auftrag der französischen Imker forschte sein Institut weiter. Und kam hinsichtlich der Schädlichkeit von Neonicotinoiden zu einem eindeutigen Ergebnis: „Wir konnten nachweisen, dass der Mais, die Sonnenblumen, Pollen, Nektar, Wasser – alles, was die Bienen betraf –, kontaminiert war, und dass die Dosierungen in der freien Natur so hoch waren, dass sie ausreichten, um bei den Bienen zum Tod zu führen oder zumindest zu schweren, subletalen Effekten.“ Daraufhin wurde, im Jahr 1999, in Frankreich erstmals ein Bayer-Neonicotinoid wegen der Gefahr für die Bienen im Sonnenblumenanbau die Zulassung entzogen. Man hätte annehmen können, dass bald darauf ein EU-weites Verbot folgen würde. Doch es kam anders.
Dabei waren Frankreichs Imker nicht die einzigen, die über seltsame Erkrankungen bei ihren Bienenvölkern und Verlustraten von bis zu 50 Prozent klagten. Auch ihre Kollegen in Deutschland und anderen Ländern bemerkten, dass etwas nicht stimmte. Bienen verloren beispielsweise die Orientierung und sie wurden anfälliger gegenüber Parasiten wie der Varroamilbe.
Die Flut der Studien und Hinweise, die die Bayer-Gifte dafür verantwortlich machten, schwoll an. Doch europaweit nahm fast keine Behörde die Zeichen ernst. Die Neonicotinoide waren ja kontrolliert und formal völlig korrekt zugelassen worden. Dass dieses Kontrollsystem ganz nach dem Gusto der Industrie gestrickt ist (vgl. Interview S. 26), war damals nur Experten bekannt.
Zudem ging der Konzern auch direkt auf unliebsame Kritiker los. Imkerpräsident Henri Clement, der Bayer wegen der Neonicotinoide öffentlich als Verursacher des Bienensterbens bezeichnet hatte, wurde wegen übler Nachrede vor das Provinzgericht von Mende gezerrt. „Das Ziel war, die ganze Debatte zu stoppen, denn sie wollten weiterhin ihr Zeug verkaufen. Alles, was sie interessiert, ist, Kohle zu machen“, sagt Clement. Am Ende verlor der Konzern den Prozess.
Auch der Wissenschaftler Jean-Marc Bonmatin bekam die Wut des Chemiegiganten zu spüren. Der Toxikologe hatte sich in der französischen Tageszeitung Libération öffentlich über den Ablauf der Feldstudie beklagt. Bayer drohte ihm daraufhin mit einer Klage. Auch wurde Bonmatins Arbeitgeber, das CNRS, schriftlich dazu aufgefordert, ihn nicht mehr mit der Presse sprechen zu lassen. Bonmatin ist überzeugt: Solche Einschüchterungsversuche haben System. Genauso wie der Chemieriese Monsanto – der inzwischen zum Bayer-Konzern gehört – in den USA über Jahre hinweg gegen Kritiker seines Unkrautvernichters Glyphosat mit teils fragwürdigen Methoden vorgegangen sei, wolle auch Bayer in Europa seine Kritiker mundtot machen.
Auf der anderen Seite versuchte Bayer weiter, kritische Studien zu verhindern. Auch in dem Land, in dem die Neonicotinoide erfunden worden waren – in Japan. Dort entdeckte der Bayer-Wissenschaftler Shinzo Kagabu vor rund 30 Jahren das erste Neonicotinoid, Imidacloprid. Bei vielen anderen Pestiziden wurden die Schädlinge irgendwann resistent, zudem klagten immer wieder Anwender über Bronchial- und Hautprobleme nach dem Kontakt mit den Giften. All dieses unerwünschten Nebenwirkungen, so die Hoffnung, sollten mit den „Neonics“ der Vergangenheit angehören. Und tatsächlich war Shinzo Kagabus Erfindung für Bayer der Beginn eines Milliardengeschäfts.
Japan, im Jahr 2002
Neonics ohne Nebenwirkungen? Die Hoffnung wurde nicht erfüllt. Der Toxikologe Francisco Sanchez-Bayo sorgte im Frühjahr 2019 mit einer Meta-Studie zum Insektensterben für Aufsehen. „Unsere Studie hat gezeigt, dass 40 Prozent der Insekten in vielen Industrienationen bedroht sind und von diesen ein Drittel besonders stark betroffen und vom Aussterben bedroht ist“, sagt der Wissenschaftler. Schuld am Insektensterben habe vor allem die industrielle Landwirtschaft.
Der Spanier, der im australischen Sydney lebt, sollte im Jahr 2002 einen mysteriösen Vorfall in der japanischen Präfektur Chiba zunächst im Auftrag der dortigen Universität und später auch der Regierung untersuchen. Insektizide haben die Aufgabe, ausschließlich die „Ziel-Organismen“ und keine anderen Spezies zu töten. Doch Reisbauern hatten in ihren bewässerten Feldern jede Menge toter Medaka-Fische und Flusskrebse gefunden. Wie Detektive suchten Sanchez-Bayo und seine Mitarbeiter die Ursache. Als Berater waren auch zwei ehemalige Bayer-Wissenschaftler engagiert worden. Einer davon, Koji Iwaya, war sogar Mitentwickler von Imidacloprid gewesen. Zu Iwayas Erstaunen wurden die Bayer-Gifte nun als Verursacher des Fisch- und Flusskrebssterbens identifiziert. Sie griffen massiv in ein ganzes Ökosystem ein. Sanchez-Bayo erzählt, dass Bayer-Entwickler Iwaya eine Veröffentlichung darüber verhindern wollte: „Sie (die Mitarbeiter von Bayer) wollten es verheimlichen. Sie wollten nichts veröffentlichen, was dem Unternehmen hätte schaden können.“ Kurze Zeit später wurde Sanchez-Bayo, offenbar auf Druck der Bayer-Leute, von dem Projekt abgezogen. Seinen Mitarbeitern wurde verboten, mit ihm weiter in Kontakt zu stehen. Die Ergebnisse publizierte er trotzdem.
Weltweit konnte nun jede Zulassungsbehörde die alarmierende Studie nachlesen: Neonicotinoide blockieren ganz bestimmte Rezeptoren von Nervenzellen im Gehirn auch von anderen Spezies. Diese Blockade sorgt für eine Reizüberflutung, so lange, bis die Zelle abstirbt. Außerdem reichen schon sehr geringe Mengen aus, um Tiere nicht akut, sondern langsam zu töten. Es kann daher keine „sichere Dosis“ geben, davon sind viele unabhängige Toxikologen überzeugt. Doch genau davon, einer „sicheren Dosis“, gehen alle Zulassungsstudien für die Neonicotinoide aus. Dazu kommt: Die für die Zulassung nötigen Tests werden von den Herstellern selbst oder in deren Auftrag durchgeführt, nicht etwa durch unabhängige Labore.
Paris, im Jahr 2019
Bernard Faus Kanzlei befindet sich in einem schmucken Gründerzeithaus mit Ausblick auf den Eiffelturm. Der Pariser Rechtsanwalt streitet im Auftrag der französischen Imker seit vielen Jahren erfolgreich gegen Bayer und andere Hersteller der Neonicotinoide. Er ist wegen der Gifte Mitte der 90er Jahre sogar bis vor den Conseil d'État, das oberste Verwaltungsgericht, gezogen. Kernpunkt war der in den EU-Richtlinien festgelegte „Schädigungsquotient“. Der bezieht sich auf potenzielle Gefahren, die mit einem Pestizid einhergehen und setzt die Aufwandmenge in Bezug zu einer Dosis, die für Bienen tödlich ist. Liegt der Schädigungsquotient unter 50, dann hat das Pestizid keine negative Wirkung auf das Bienenvolk.
Für Imidacloprid, lag er aber über 50. Laut EU-Gesetz hätten für das Insektizid weitere Langzeit-Kontrollversuche an Bienen im Feld zwingend durchgeführt werden müssen. Doch die damals für die EU-Zulassung zuständigen französischen Behörden ließen sich die zusätzlichen Versuche nach Ansicht Faus von Bayer ausreden. Denn Bayer argumentierte, dass solche Tests nur für jene Pestizide durchgeführt werden müssten, die versprüht würden – die Neonicotinoide hingegen würden ja an das Saatgut geklebt. Diese Methode sei daher ungefährlicher für „Nicht-Zielorganismen“. Allerdings steht in der EU-Direktive von solch einer Ausnahme nichts. „Wir haben bemerkt, dass diese Produkte – wenn die Kontrollen, die die europäische Regelung fordert, durchgeführt worden wären – nicht hätten zugelassen werden dürfen“, sagt Fau. Behörden haben es Bayer offensichtlich schon Anfang der 90er Jahre leichtgemacht, die Neonicotinoide auf den Markt zu bringen. Seitdem sind mehr als zwei Jahrzehnte vergangen.
Die Beweislast ist mittlerweile erdrückend: Im Jahr 2018 warnten 233 Wissenschaftler im Fachmagazin Science vor einem massiven Verlust der Artenvielfalt und forderten ein weltweites Verbot der Neonicotinoide. Der niederländische Toxikologe Henk Tennekes ist überzeugt, dass Bayer in Wahrheit schon sehr früh wusste, wie gefährlich die Neonicotinoide wirklich sind. Er ist im Internet auf eine Bayer-Studie gestoßen, die diese These belegt. Die Arbeit erschien im Jahr 1991 in der unternehmenseigenen Publikation „Pflanzenschutz-Nachrichten Bayer“ – also ein Jahr vor der ersten Zulassung eines Neonicotinoids in der EU und lange bevor sich die ersten Kritiker aus Frankreich meldeten. In dieser Studie geht es um die Wirkung der Gifte auf bestimmte Rezeptoren im Gehirn, an die die Neonicotinoid-Moleküle andocken. Der Autor, ein Bayer-Mitarbeiter, kommt zu folgendem Ergebnis: „Imidacloprid ist das erste hochwirksame Insektizid, dessen Wirkungsprinzip auf einer fast vollständigen und nahezu irreversiblen Blockierung von (…) Rezeptoren beruht.“
Irreversibel heißt, dass sich die Gifte langfristig in den Nervenzellen binden und nicht oder kaum abbauen. So können selbst niedrigste Dosen durch langfristige Anreicherung tödliche Folgeschäden verursachen, eine sichere Dosis gibt es also nicht. Zwar wurden die Versuche an einer Fliegenart durchgeführt, aber weil das Nervensystem vieler Insekten ähnlich gebaut ist, hätten bei Bayer die Alarmglocken läuten müssen. Davon ist Henk Tennekes überzeugt. Die Wirkungen des Pestizids seien im Grunde nicht kontrollierbar. Wenn Bayer das wusste: Warum haben sie den Wirkstoff trotzdem verkauft?
Henk Tennekes hat Bayer mit dieser Frage konfrontiert. Doch dann behauptete der Konzern plötzlich genau das Gegenteil: Die Rezeptorenbindung sei reversibel, also umkehrbar. Dies würde bedeuten, dass nur eine bestimmte Menge des Giftes sofort tödlich wirkt. Niedrigere Dosen könnten abgebaut werden und würden dem Insekt im besten Fall nichts anhaben. Henk Tennekes vermutet, dass die Erklärung für diese 180-Grad-Wende keine wissenschaftlich motivierte ist: „Imidacloprid alleine hat einen Umsatz von nahezu einer Milliarde Euro und ich denke, dass das dazu geführt hat, dass sie einfach etwas behauptet haben, nur um diese Substanz zu retten.“ Auch Bernard Fau, der Rechtsanwalt der französischen Imker, hält die Methoden von Bayer und Co. für äußerst fragwürdig: „Man darf nicht naiv sein. Ziel und Zweck dieser Unternehmen ist es, Geschäfte mit diesen Produkten zu machen“, sagt er. Und das würden sie eben mit allen Mitteln tun, die ihnen zur Verfügung stehen. „Bis dahin ist das normal. Was nicht normal ist: Dinge zu verbergen, Zeit zu schinden, um zu verhindern, dass Produkte vom Markt genommen werden, die schädlich sind.“
Seit 1992 vergiften die Neonicotinoide Pflanzen, werden in der Luft über große Distanzen transportiert, lassen sich in Gewässern und im Boden nachweisen. Wären die Gifte schon früher verboten worden, wäre der Rückgang der Insekten möglicherweise nicht so dramatisch wie er heute ist. Ob das den Verantwortlichen in den Behörden so bewusst ist, ist fraglich:
Kürzlich erst wurden zwei Insektizid-Wirkstoffe EU-weit zugelassen, die im Verdacht stehen, für Insekten ähnlich katastrophale Folgen zu haben wie die Neonicotinoide.
Wie steht Bayer zu den Vorwürfen?
natur hatte mehrfach bei dem Pestizidhersteller um ein Interview angefragt – zuletzt mit Erfolg: Bayer hat sich zu einem Gespräch bereiterklärt und möchte zu den angesprochenen Punkten ausführlich Stellung nehmen. Das Interview lesen Sie in der kommenden natur-Ausgabe.
© Berndt Welz